Im Jahr 2006 stimmte das australische Parlament über ein kontroversielles Gesetz gegen Asylsuchende ab. Als die Abgeordneten am Tag der Abstimmung ins Parlament gingen, schrieb ein Flugzeug „Vote No“ – „Wählt dagegen“ – in den wolkenlosen, blauen Himmel über dem Gebäude. Die ParlamentarierInnen wussten, dass in ganz Australien in den Tagen vor der Abstimmung gespendet worden war, um die Flugshow zu finanzieren. Eine Stunde später wurde der Antrag abgelehnt, trotz Regierungsmehrheit.
Eine klassische Anekdote einer spektakulären Kampagnenaktion, mit einem Unterschied: Die Kampagne wurde ausschließlich im Internet über die Online-Organisation GetUp auf die Beine gestellt. Von der Thematisierung des Problems, über die Mobilisierung der UnterstützerInnen bis hin zur Finanzierung des Flugzeugs.
Kampagnen, die über das Internet verbreitet werden (oder über andere Kommunikationstechnologien wie Mobiltelefone) werden Online-Kampagnen oder im englischen E-Campaigns genannt. Sie ersetzen nicht die traditionellen Formen der Kampagnenarbeit, sondern sind eine Erweiterung. Das Internet beschleunigt die Mobilisierung, verlängert die Reichweite, schafft neue Möglichkeiten, um Veränderungen zu bewirken, und lässt UnterstützerInnen aktiv werden wie nie zuvor. Es kann die Kosten von Kampagnen senken, doch vor allem kann es – richtig angewendet – aus jedem Budget mehr machen.
E-Campaigning ist weder auf englischsprachige noch auf reiche Länder beschränkt. Kreative Köpfe nützen das Internet unter unterschiedlichsten Bedingungen.
Die 18-jährige Irakerin Zuhal Sultan verlor beide Elternteile in den letzten fünf Jahren. Sie nutzte das Internet, um das erste nationale Jugendorchester Iraks zu gründen. Sultan hat mit ihrem Blog viele hochkarätige UnterstützerInnen an Bord des Projekts geholt. Per Webcam geben WeltklassemusikerInnen Unterricht im Internet, damit die jungen irakischen MusikerInnen auch über Grenzen hinweg und in Zeiten des Kriegs lernen können. Vor Kurzem hat sie eine Twitter-Nachricht an einen Abgeordneten Iraks geschickt, der sie daraufhin sofort zu einem Treffen einlud. Am Ende des Gesprächs sagte er ihr 50.000 US-Dollar für die Kampagne zu.
Gene Hashimi und sein Team von Greenpeace Indien haben zehntausende neue UnterstützerInnen per E-Mail gewonnen, um die Firma Tata zu stoppen, einen Hafen an einem der letzen Brutplätze für Ridley-Schildkröten zu bauen. Auch wenn die Bagger noch nicht stillstehen, so hat Greenpeace auf jeden Fall Tatas Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Yu Xin alias „Fish“ hat einen sanfteren Weg mit Greenpeace China gewählt, das ökologische Bewusstsein im Land zu erweitern. Die „Stäbchen-Kampagne“ wollte Chinesinnen wie Chinesen dazu bringen, wiederverwendbare Stäbchen zum Essen zu verwenden. Der Holzverbrauch Chinas könnte dadurch radikal vermindert werden. Im Internet wurden Informationen veröffentlicht, Aktionen vorgeschlagen sowie Restaurants dazu aufgefordert, Partys für den Umstieg von Holz- auf wiederverwendbare Stäbchen zu feiern.
Obwohl es in Ländern des Südens bedeutend weniger Internet-UserInnen gibt als in Industriestaaten, kann auch dort eine Internet-Kampagne effektiv sein. Die gebildete und oft einflussreichste Schicht hat auch in wenig industrialisierten Ländern Zugriff aufs Internet und kann so zum Erfolg einer Kampagne führen.
Viele AktivistInnen in weniger industrialisierten Ländern nutzen zunehmend die Mobiltelefonie, um einen größeren Teil der Bevölkerung zu mobilisieren. Während der Unruhen nach den Wahlen in Kenia im Dezember 2007 haben Tonee Ndungu und seine KollegInnen über ein weites Netz von Mobiltelefonen Informationen über die politischen Geschehnisse eingeholt und Ratschläge an die Menschen in den Konfliktgebieten ausgeteilt. Auch jetzt noch versenden sie Informationen über PolitikerInnen und politische Entwicklungen. Tausende KenianerInnen können so innerhalb der politischen Wirren ihres Landes den Überblick bewahren.
Greenpeace Argentinien nützt gleichfalls Mobiltelefone. Das Team teilt Handys an Menschen in abgelegenen Waldregionen aus. Beginnen illegale Schläger dort ihre Arbeit, können die BewohnerInnen der Region eine SMS an Greenpeace senden. Greenpeace schickt dann sein „Jaguar-Team“, ausgestattet mit Motorrädern und einem Hubschrauber, um die illegalen Rodungen zu stoppen.
Soziale Netzwerke wie Facebook oder MySpace und soziale Medien wie YouTube, Flickr oder Twitter sind in den letzten Jahren enorm gewachsen. Und sie sind die neuen Trendworte der Medien. Doch was sie tun, wird schon seit Jahrzehnten im Internet getan: mit anderen kommunizieren. Nur, dass sie es erleichtern. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bauen durch die Werkzeuge des Web 2.0 Beziehungen mit neuen UnterstützerInnen auf oder vertiefen die bestehenden. Und: Die UnterstützerInnen können untereinander in Kontakt treten.
ABC der Neuen Medien
Blog: „Online-Tagebuch“, zu dem andere Stellung nehmen können („posten“).
Chat: Schriftliche Kommentare – zwischen zwei oder mehreren Personen – in Echtzeit im Internet.
Facebook: Das am schnellsten wachsende soziale Netzwerk im Internet.
Flickr: Frei zugängliche Fotoplattform, auf die jede/r Fotos stellen kann. Zugang zu Fotos kann vom Ersteller beschränkt werden.
MySpace: Eines der größten sozialen Netzwerk im Internet.
Neue Medien: Zeitbezogene neue Medientechniken. Anfangs Radio, dann Fernsehen, seit Mitte der 1990er Jahre elektronische, digitale, interaktive Medien, wie Multimedia und Internet.
posten: In Internet-Foren oder Blogs Beiträge schreiben.
Soziales Netzwerk: Internetplattformen, auf denen man sich einträgt, seine eigene Seite gestaltet und sich mit anderen Mitgliedern vernetzt. Zugang kann vom Ersteller beschränkt werden.
Twitter: Internetseite, auf der man in Form von Kurznachrichten darüber informiert, was gerade passiert.
Web 2.0: Auch social media oder soziale Medien. Werkzeuge für interaktive Kommunikation im Internet.
YouTube: Frei zugängliche Videoplattform im Internet, auf die jede/r Videos stellen.
Auch traditionelle Kampagnen bauen auf diesem sozialen Bedürfnis der Menschen auf. Sie entstehen zwischen Freundinnen und Freunden oder Menschen auf einer Veranstaltung, die ein gemeinsames Anliegen eint. Die AktivistInnen organisieren, mobilisieren und demonstrieren, und gleichzeitig vernetzen sie sich dadurch. Indem sich immer mehr Gleichgesinnte im Netzwerk zusammenschließen, wächst die Kampagne. Doch in den letzten Jahrzehnten – in einer Zeit, in der AktivistInnen immer mehr auf Massenmedien angewiesen waren – haben viele das soziale Element von Kampagnen vergessen. Eine militärähnliche Taktik wurde gewählt, um Nachrichten und ihre Verbreitung zu kontrollieren. Das Internet und Mobiltelefone haben eine Rückkehr zur traditionellen Kampagnenarbeit erzwungen. Ein Aktivismus, der auf Beziehungen aufbaut, und so die Macht einer weiten und schnellen Verbreitung wiedererlangt hat.
Dieser Wandel zwingt Organisationen, ihre Kampagnen, und noch wichtiger, die Beziehung zu ihren UnterstützerInnen zu überdenken. Strategien und Praktiken, die in den letzten 60 Jahren perfektioniert wurden, funktionieren noch immer, doch manche verlieren an Effektivität – teilweise weil neue Generationen nicht mehr auf sie ansprechen. Doch E-Campaigning spricht nicht nur die jungen Generationen an. Von Kindern bis SeniorInnen, E-Mail und Internet werden mittlerweile von allen Altersgruppen genutzt. Jede Generation reagiert jedoch anders auf unterschiedliche Arten der Kommunikation und deren Inhalte. Deswegen sind persönliche Netzwerke und die Relevanz des Themas wichtiger für die Einbindung von Menschen als ihr Alter.
Die meisten NGOs sind in Bereiche wie Fundraising, Kampagnen, Öffentlichkeitsarbeit etc. unterteilt. E-Campaigning zwingt all diese Tätigkeitsfelder, enger miteinander zusammenzuarbeiten als früher. Einer der kritischsten Punkte dieser Zusammenarbeit betrifft das Fundraising. FundraiserInnen und KampagnenaktivistInnen trennt oft ein gegenseitiges Misstrauen. Doch da sie einander brauchen, tolerieren sie einander. Neue Generationen von AktivistInnen sehen jedoch keine Trennung mehr zwischen finanziellem und moralischem Aktivismus. Auf die Straße gehen, E-Mails verschicken, spenden oder freiwillige Mitarbeit sind gleichwertige Aufgaben, wenn sie dem Anliegen dienen. Kampagnen gehen nun oft Hand in Hand mit Fundraising. Die Online-Organisation GetUp hat die beiden Bereiche miteinander vereint, um die Flugshow über dem australischen Parlament zu finanzieren.
In letzter Zeit sind immer mehr Spendenshops, eine Art Geschenkkataloge, im Internet aufgetaucht. Dort zahlt man den Preis einer Ziege oder eines Herdes, der Menschen in Ländern des Südens zugutekommt. Die Vereinigung von Fundraising und Kampagnenarbeit geschieht nur langsam, doch sie ist immer häufiger zu beobachten.
Das Fachwissen, eine gut durchdachte Online-Kampagne durchzuführen, ist dünn gesät in NGOs, von der Geschäftsführerin bis zum Aktivisten. Lernen durch Ausprobieren kann Jahre dauern und spürbare Fehler mit sich bringen. Ausbildungen in diesem Bereich gibt es in den meisten Ländern nicht. Und obwohl Web 2.0 das Schlagwort der letzten Jahre ist, sind die Wirklichkeit und die Herausforderungen für die Zivilgesellschaft komplexer und bedeuten mehr, als nur ein neues Werkzeug einzusetzen und neue Kanäle zu öffnen: Die Zivilgesellschaft muss sich neu überdenken und sich neu erfinden. Die Nutzung von Internet und Mobiltelefonie eröffnet enorme Möglichkeiten, doch sie birgt auch interne Hindernisse und Risiken. Zumindest für die, die weiterhin das tatsächliche Potenzial der neuen Kommunikationstechnologien unterschätzen und missverstehen.
Duane Raymond war einer der Pioniere der Online-Kampagnen von Oxfam in Großbritannien. Seit 2004 unterstützt er AktivistInnen mit seiner Organisation FairSay bei ihrer Kampagnenarbeit.
Aus dem Englischen übertragen von Michaela Krimmer.